Das Kiek mol in! - Archiv

Heimatgefühle
25.06.2022

Ich will keine Schleichwerbung machen. Daher nur so viel: Seit meiner Kindheit lese ich eine Fernsehzeitschrift, deren Name aus zwei Wörtern mit insgesamt fünf Buchstaben besteht.
Als ich die Ausgabe Nr. 25/2022 durchblätterte, blieb ich bei einer Doppelseite hängen. Darauf abgebildet war der Blick von einem Hügel auf eine wunderschöne Waldlandschaft. Und mittendrin ein See, über den Segelboote dahinglitten.

Obwohl ich seit Jahrzehnten nicht mehr dort war, wusste ich sofort, was das Foto zeigte: den Baldeneysee, den großen Ruhrstausee im grünen Süden meiner Heimatstadt Essen. Und sofort waren sie wieder da, diese Heimatgefühle, die mich immer wieder in einen Zwiespalt werfen. Der besteht in der Frage: Wo bin ich denn nun zu Hause? Und: Kann man zwei Heimaten haben?

Ich bin eine bekennende Ruhrpottpflanze. Die Stadt, in der man vor fünfzig Jahren noch Kohlenstaub hustete und die mittlerweile so schön grün ist, ist bis heute meine Heimat, auch wenn ich vor 36 Jahren von dort weggezogen bin. Aber auch der Norden Deutschlands ist meine Heimat – Hamburg, Nordfriesland mit seinen Inseln und Halligen und die Lübecker Bucht.

Wenn Sie mich also fragen, wo ich denn nun wirklich beheimatet bin, dann wäre die Antwort: Sowohl hier als auch da.

Das erzeugt bei manch einem Kopfschütteln. Oft höre ich, man könne nur eine Heimat haben. Ich wurde schon als heimatlos bezeichnet, weil ich in meiner angeborenen Heimat nicht mehr wohne und in meiner neuen Heimat nicht geboren wurde.

Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen: Manch einer fühlt sich in der ganzen Welt zu Hause, auf fünf Kontinenten. Warum sollte ich also nicht zwei Heimaten haben? Schließlich bin ich nicht der erste Mensch, bei dem zwei Herzen in einer Brust schlagen.

 

Genau genommen
24.09.2021

Beim letzten Korrekturgang fiel es mir auf: „Auf die Idee, sofort einen Krankenwagen zu rufen, ist der Ordner nicht gekommen?“, lasse ich Tammo Anders in ‚Mordsblues‘ den Konzertveranstalter Björn Rock fragen. ‚Rettungswagen‘ muss es heißen, sagte der kleine Besserwisser in mir mit erhobenem Zeigefinger und gerunzelter Stirn.

‚Halt die Klappe‘, erwiderte ich ungehalten, denn der Rettungswagen hätte mir den Zeilenumbruch und damit auch den Seitenumbruch zerhackt. Eine Buchseite mehr hätte bedeutet, dass der Grafiker den Buchrücken fürs Cover neu hätte berechnen müssen. ‚Meine Leser’, rief ich dem kleinen Besserwisser noch hinterher, ‚werden es mir verzeihen. Die wissen schon, was gemeint ist.‘

Wenige Wochen nach Erscheinen des Bandes erhielt ich eine Mail von einem Leser aus – nein, ich verrate nicht, wo er wohnt. Der Herr im reifen Rentneralter war zu aktiven Berufszeiten als Rettungssanitäter im Einsatz. In epischer Breite erklärte er mir den Unterschied zwischen Krankenwagen und Rettungswagen. Er beschrieb mir die verschiedenen Arten von Rettungswagen und stattete sie bis ins Detail mit medizinischen Geräten aus. Im Übrigen, sagte er, hätte ein Bluesfestival von der Größe, wie es in meinem Krimi gefeiert wird, ohne ein Sanitätszelt des Roten Kreuzes überhaupt nicht stattfinden dürfen.

Ich bedankte mich artig, wies ihn noch darauf hin, dass das Festival so groß nicht gewesen sei und dass es den in dem Band begangenen Mord und somit auch diesen Kriminalroman nicht gegeben hätte, wenn ein Sanitätszelt auf dem Gelände gestanden wäre.

Einige Tage später meldete sich besagter Leser wieder. Diesmal wies er mich darauf hin, ich hätte geschrieben, dass meine Ermittler zur ‚gleichen‘ Zeit von Ostfriesland nach St. Peter-Ording umgezogen seien wie die Gerichtsmedizinerin Dr. Gerhild Linnenbrügger. Es müsse aber ‚dieselbe‘ Zeit heißen.

Nein, schrieb ich ihm zurück, es war nicht dieselbe Zeit. Zwischen dem Umzug der Ermittler und dem der Rechtsmedizinerin lagen ungefähr drei, vier Wochen. Dieselbe Zeit könne es nur gewesen sein, wenn die drei am selben Tag, genau genommen sogar zur selben Uhrzeit umgezogen wären.

Nein, antwortete er mir. Er habe vor Jahrzehnten in der Schule gelernt, es gebe nur eine Zeit, deshalb muss es immer ‚dieselbe Zeit‘ heißen. Ich widersprach noch einmal heftig, erklärte ihm den Unterschied zwischen der Zeit als universeller Dimension, der Zeit als Maßeinheit, der Zeit im Sinne von Zeitraum … Am Ende erklärte er mit einer gewissen Portion Humor, den ich ihm gar nicht zugetraut hatte, er habe immer recht, denn er sei Steinbock.

Nun, da hatte er Pech, denn auch ich bin Steinbock.

Im letzten Sommer meldete er sich nach langer Funkstille wieder. (Nein, ich hatte ihn nicht vermisst.) In ‚Mordsabend‘ fragt Fenna Stern ihren Tammo: „Du hattest denselben Gedanken wie ich?“ Ich gebe zu: Beim Erstellen des Manuskriptes hatte ich an dieser Stelle lange philosophiert, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass beide wirklich ein und denselben Gedanken hatten.

Diesmal wandte mein allwissender Leser sich in selten despektierlicher, tadelnder Form an mich. Zu meiner Verteidigung führte ich Zitate von Philosophen, Neurologen und Schriftstellern an, die ich zu dem Thema ‚zwei Menschen, zwei Hirne – ein und derselbe Gedanke‘ im Internet gefunden hatte.

Wir führten einen Disput, der immer krasser und besserwisserischer wurde. Am Ende war ich einen Leser los. Und ganz ehrlich: Ich habe erleichtert aufgeatmet.

Ich tausche mich gern mit meinen Lesern über Fragen der Grammatik, Semantik und Stilistik aus. Aber ich meine, ein wenig Freiraum sollte man dem Autor lassen, und meine Finger sträuben sich, ein Manuskript zu schreiben, wenn ich bei jedem Satz überlegen muss, ob der Herr Besserwisser sich wieder ein Wort oder einen Satz aus den mehr als 60.000 Wörtern herauspickt, die meine Romane umfassen, und mir schreibt, wie es eigentlich hätte heißen müssen.

Im Nachklang zu diesem unschönen Schriftwechsel fiel mir ein Satz ein, den ich in meiner Kindheit oft gehört habe: ‚Der Klügere gibt nach.‘ Da ist was dran. Aber glauben Sie mir: Genau genommen kann man in der Begegnung mit Besserwissern nicht der Klügere sein. Und manchmal will man es auch gar nicht.

 

Streitpunkt
11.04.2021

Sprache lebt. Zu beobachten, wie sie sich verändert und welchen Einflüssen sie unterliegt, ist eine spannende Angelegenheit. Als Autorin gucke ich genau hin: Wie entwickelt sich die Sprache? Was ändert sich? Welche Änderungen sind zwingend, welche optional? Was übernehme ich für mich und meine Bücher?

Da kommen wir nun an einen Punkt, der unsere Gesellschaft polarisiert.

Wenn die Nachrichtensprecher oder die Moderatoren von Talkshows abends im Fernsehen von den „Zuschauer  innen“ reden, frage ich unwillkürlich: Und die Zuschauer außen, was ist mit denen?

Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem meiner Bücher Folgendes lesen:

„Die Kommissar:innen versammelten sich am Tatort. Die Täter:in war vermutlich ein Mann. Er oder sie hatte offenbar im Kampf mit dem Opfer ein grobgliedriges Armband verloren, wie es nur Männer tragen. Die Reporter:innen, die von der Tat Wind bekommen hatten, traten auf die Leiterin der Kriminaltechniker:innen zu.“

Sie merken, worum es mir geht?

In Abwandlung eines bekannten Sprichwortes treibe ich es weiter auf die Spitze: „Der- oder diejenige, der oder die sich in Gefahr begibt, muss damit rechnen, dass es ihn oder sie hart trifft und er oder sie in dieser Gefahr ums Leben kommt.“

Denken Sie auch an die „Flüchtenden“, die den Begriff der „Flüchtlinge“ ersetzt haben. An die Studierenden, die Mitarbeitenden und die Handwerkenden, von denen man neuerdings liest. Unwillkürlich frage ich mich: Wie sieht es mit den Bäckern, den Tischlern und den Schauspielern aus? Bezeichnen wir die nun als Backende, Tischlernde und Schauspielernde? Werden Daumenlutscher zu Daumenlutschenden, Hosenscheißer zu Hosenscheißenden? Oder sind es Daumenlutscher:innen und Hosenscheißer:innen?

Es geht ja längst nicht mehr allein um die Gleichstellung der Frau. Es geht um Diversität und um die - absolut notwendige - Gleichstellung von Menschen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen. Ich warte nur darauf, dass sich auch dies in einer eigens dafür erfunden Form in der deutschen Sprache niederschlagen wird.

Erste Ansätze dazu habe ich kürzlich in einem Beitrag einer Personalberaterin entdeckt. Sie schlug vor, Mitarbeiter oder Bewerber in Anschreiben nicht mehr mit „Herr“ oder „Frau“ anzureden, sondern mit Vor- und Zunamen: „Sehr geehrter Peter Mustermann, sehr geehrte Daniela Musterfrau“. Sie plädierte für diese Art der Anrede, damit sich niemand in die „Schublade Mann“ oder in die „Schublade Frau“ geschoben fühlt, der sich selbst darin nicht wiederfindet. – Die Expertin hatte wohl übersehen, dass unsere Vornamen uns als Wesen entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts dastehen lassen.

Ist die deutsche Sprache nicht schon schwierig genug? Müssen wir sie noch komplizierter machen? Müssen wir den Schülern und den Migranten in unserem Land das Erlernen dieser Sprache noch mehr erschweren?

Nein, ich gendere nicht. Weder in meinen Büchern noch in Gesprächen. Auch dann nicht, wenn meine Weigerung als politisch inkorrekt erachtet wird. Mein Freundeskreis besteht aus hetero-, homo- und transsexuellen Menschen. Meine Achtung vor ihnen drückt sich in meiner Haltung ihnen gegenüber aus.

Ich plädiere dafür, die Verhunzung der Sprache zu stoppen. Wie viel sinnvoller wäre es, die Diskriminierung von Menschen, die sich zu benachteiligten Gruppen zählen, im privaten und beruflichen Alltag durch aktiv gelebte Menschenrechte zu beseitigen, statt Pseudo-Toleranz durch künstliche Worthülsen zu erzwingen?!

 

Wendepunkt
25.02.2021

Das Leben schreibt viele Geschichten. Traurige und schöne. Und todtraurige, aus denen unerwartet schöne entstehen. Meine gehört zu den Letzteren.

Es ist bald zwölf Jahre her, da teilte ein Chirurg einer Hamburger Klinik mir mit, dass meine Mutter an den Folgen ihrer soeben überstandenen Krebs-OP sterben werde. „Es kann Stunden dauern oder Tage“, meinte er.

Ich rief meine Kunden an, für die ich als selbständige Texterin und Technische Redakteurin seit Jahren quasi im Dauereinsatz war. „Unser Projekt kann warten, bis Sie wieder da sind“, hieß es dort, wo sonst meist Zeitdruck angesagt war.

Ihre letzten Lebensjahre hatte meine Mutter in einer idyllisch bei Hamburg gelegenen Seniorenwohnanlage verbracht. Es fiel mir unendlich schwer, den Bewohnern mitzuteilen, dass ihre lebensfrohe Nachbarin nicht zurückkehren würde.

Nach den Telefonaten packte ich meine Reisetasche und zog in die Klinik. Fünf Tage und Nächte verbrachte ich am Bett meiner Mutter im Sterbezimmer. Fünf Tage und Nächte – eine unerträgliche Ewigkeit. Als ich mich von meiner verstorbenen Mutter verabschiedete, war ich sicher: Aus dieser Zeit entsteht ein Roman.

Erst im Oktober 2012 fand ich die Kraft, ihn zu beginnen. Doch statt einer Geschichte über Sterben, Tod und Trauer wurde ein lebensfrohes Buch daraus. Ein Roman, der – wie könnte es anders ein? – in einer Seniorenwohnanlage bei Hamburg spielt und auf humorige Weise zeigt: Es ist nie zu spät, einen neuen Lebensabschnitt zu wagen.

Himmelhochjauchzendhellblau markiert einen der wichtigsten Wendepunkte meines Lebens. Denn mein ganz persönlicher Lockdown im März 2009 hat mir mit diesem Roman den Start ins Autorendasein und damit in ein neues, sehr erfülltes Leben beschert.

Himmelhochjauchzendhellblau
eBook
Taschenbuch: ISBN 978-3-75-264139-4